Gießener Allgemeine Zeitung
Dem Tod so nah
Der Außerirdische Thomas Newton sitzt in "Lazarus" zwischen den Welten fest.
Und auch im Stadttheater ist etwas "Außerirdisches" gelandet:
David Bowies spektakuläres Musical "Lazarus".
Karola Schepp, 09.März 2020
Eins vorweg: Wer sich von David Bowies Musical "Lazarus" eine gefällige Revue seiner größten Hits erwartet, der wird enttäuscht. Hier gibt es, so Dramaturg Harald Wolff, "keinen simplen Plot zum Mitpfeifen". Auch wem das Leben und Werk des schillernden Musikers eher unbekannt ist, der dürfte sich in der Inszenierung von Katharina Ramser im Stadttheater zuweilen etwas verloren vorkommen. Doch wer sich auf das poetisch Verrätselte einlässt und sich von der auch optisch besonderen Atmosphäre berühren lässt, der erlebt einen faszinierenden Abend, der noch lange in Erinnerung bleiben wird und wie im Drogenrausch bewusstseinserweiternd wirkt.
Ein Bühnenbild wie ein LSD-Trip
Und daran hat die sensationelle Bühne von Michael Böhler maßgeblichen Anteil. Über spiegelndem Untergrund erheben sich riesige konzentrische Kreise, in denen von Tom Bernhard in Gießen und Umgebung gedrehte Videos projiziert im Mittelpunkt stehen. Küssende Menschen, rasante Abfahrten kopfüber im Parkhaus, das dank 360-Grad-Kamera zum All mutierte Schwimmbad, ein streitendes Paar im Auto, mit Fischaugenobjektiv grotesk verzerrte Gesichter - so muss sich wohl ein LSD-Trip anfühlen.
Und auch Böhlers Kostüme sind eine Sensation. Pascal Thomas als schrilles Bowie-Alter-Ego Ziggy Stardust, Stephan Hirschpointner als mephistophelischer Valentine und Iggy-Pop-Double, Rollergirls und schwarze Witwen (Karoline Blöcher, Anna Prokop, Elisabeth-Marie Leistikow), Esra Schreier als mädchenhafte Außerirdische im "Das fünfte Element"-Style und mittendrin David Moorbach als vom Tod gezeichneter Thomas Newton und weiße Lichtgestalt. Ein siechender Sterbender, der nicht sterben kann.
David Bowie hat sich kurz vor seinem eigenen Tod mit "Lazarus" den Traum, ein Musical zu schreiben, erfüllt und dabei - wie könnte es anders sein - das Genre auch gleich neu erfunden. So wie er sich Zeit seines Lebens auch immer selbst neu erfunden hat. Und so lässt er in "Lazarus", dem eigenen Tod so nah, im Kopf des Außerirdischen Thomas Newton, den er im skurrilen Science-Fiction-Film "The man who felt to earth" vor Jahrzehnten selbst gespielt hatte, alles noch einmal an sich vorbeiziehen. Die Dämonen seines Starruhms und die Avatare seiner Selbst erscheinen ihm. Und das nicht in einer stringent erzählten Handlung, sondern als Flashbacks eines von Drogen und Alkohol gemarterten Gehirns.
Nicht alles ist verständlich - aber so mag das wohl auch sein, wenn ein Mensch am Ende seines Lebens unaufhaltsam auf das legendäre Licht am Ende des Tunnels zutreibt und sich einem Strudel der Erinnerungen stellen muss.
Liebe und Tod, Sterben und Doch-nicht-Loslassenkönnen
Es geht in "Lazarus" um die Liebe und den Tod, das Sterben und Doch-nicht-Loslassenkönnen. Die Liebe erscheint in mehreren Erzählsträngen, die wie eine Doppelhelix ineinander verwoben sind: Die Newton-Assistentin Elly (Anne-Elise Minetti), die sich immer mehr von ihrem Ehemann (Tom Wild) entfernt und mit ihm über dessen Eifersucht streitet. Oder das Mädchen (Esra Schreier), das dem siechenden Newton Hoffnung gibt, wo doch keine Hoffnung mehr ist und ihn an seine große Liebe Mary-Lou denken lässt.
Gegenentwurf zur Hoffnung ist Dämon Valentine (Stephan Hirschpointner), der wie ein Todesengel mit riesigen schwarzen Flügeln herabschwebt und Zynismus und Zerstörung mit sich bringt. Er killt ein verliebtes Hippy-Paar (Johanna Malecki/Thomas Wild) und will auch Newton dazu bringen, die Liebe zu töten. Er steht wohl für Bowies dunkle Seite, der Freunde und Lieben dem Ruhm und der Kunst geopfert hat.

Gießener Anzeiger
Zwischen Wahn und Realität
Die Inszenierung des David Bowie-Musicals am Stadttheater in Gießen erwies sich als bildstark und detailreich und bot zahlreiche bekannte Hits des zu früh verstorbenen Weltstars.
Karsten Mackensen, 09.März 2020
Es endet so, wie es auch begonnen hat: mit dem Übertritt von der einen Welt in eine andere im gleißenden, alles beherrschenden Licht des Raketentriebwerks. Thomas Newton, alias David Bowie, alias Ziggy Stardust, alias Thin White Duke nimmt Abschied - in Form einer Auferstehung. "Lazarus" hat David Bowie sein Musical genannt, dessen Uraufführung er kurz vor seinem Tod Anfang 2016 noch erleben konnte und das seitdem mit großem Erfolg an zahlreichen Theatern auf der ganzen Welt gespielt worden ist. Nun hat sich auch das Gießener Stadttheater dieser Herausforderung angenommen. Regisseurin Katharina Ramser inszeniert das Musical bildstark, detailreich und vielschichtig als Gratwanderung zwischen intimer, einsamer Privatheit und großer Show, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Realität. Premiere war am Samstag.
Spiel mit dem Uneindeutigen
Wer David Bowie kennt, weiß, dass es diesem Künstler um Eindeutigkeit und bruchlose oder gar vermeintlich authentische Erzählungen nie ging. Als Musiker und als Schauspieler suchte er das Spiel mit dem Uneindeutigen, dem Transgressiven, der Übergängigkeit, im Wechsel der verschiedenen Personas, im Wechsel der musikalischen Stile. Bis zu seinem Lebensende ließ er im Vagen, wo wirklich vielleicht Berührungspunkte zwischen seiner realen Person und seinen Figuren lagen. Sein letztes Musikvideo mit dem Song "Lazarus", der auch das Musical eröffnet, zeigte ihn selbst sterbenskrank - erst hier fielen, im Tod, Künstler und Privatperson endgültig zusammen.
Der Offenheit von Bowies Kunst insgesamt entspricht der nur lose durch eine Erzählung zusammengehaltene, stark assoziative Verlauf des Musicals: Die Handlung knüpft an den Film "The man who fell to earth" von 1976 an, in dem Bowie einen Außerirdischen namens Newton verkörperte, der auf der Erde in seiner Liebe zu Mary-Lou, aber auch in seinem Bemühen, eine Rakete für die Rückkehr zu bauen, an der Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit der Menschen scheitert. Dreißig Jahre später - hier setzt das Musical ein - ist der Popstar zum Alkoholiker heruntergekommen, der weiter, einsam in seinem Luxusapartment, von der Rakete und von seiner alten Liebe träumt. Seine persönliche Assistentin Elly verliebt sich zunehmend in ihn; ein außerirdisches Mädchen ohne Erinnerung an den eigenen Namen will beim Raketenbau helfen, weitere Figuren aus Newtons Erinnerung lassen die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen. Assoziativ verbindet sich das mit Songs aus ganz unterschiedlichen Schaffensphasen Bowies, überwiegend aber aus den 70ern und den 2010er Jahren.
Ramser spielt mit der Ambivalenz der Figuren als gleichsam konkret Handelnde in einem Stück und ihrer Funktion als Abspaltungen und Erinnerungen der Person Newtons (gespielt und gesungen von David Moorbach). Valentine (Stephan Hirschpointner) als Verkörperung des gleichnamigen Songs changiert in einem überwältigenden schwarzen Glamour-Kostüm (überhaupt sind die Kostüme von Michael Böhler allesamt großartig) zwischen Diabolus und Todesengel. Ein Freund namens Michael (Pascal Thomas) schlüpft in die Ziggy Stardust-Maske, Elly (Anne-Elise Minetti) verwandelt sich zunehmend in Mary Lou. Das Mädchen (Esra Schreier) wird schließlich, als eindeutige Wahn- oder Wunschfigur, diejenige sein, die den Protagonisten bis zum Ziel begleitet: der Freiheit in Form des Abschieds.
Videoprojektionen (Tom Bernhard) von teils buchstäblich schwindelerregender Qualität fügen in Verbindung mit dem Bühnenbild (ebenfalls Böhler), das mit seinen beweglichen, konzentrischen Kreisen mal wie ein Fernrohr, mal wie eine Brunnenröhre wirkt, eine dritte Ebene hinzu, nämlich die des ganz jenseits der Show liegenden Alltags der Handelnden als Privatpersonen (Thomas Wild tritt im gemütlichen Kapuzenpulli auf).
Küssende Pärchen gefilmt
Da kommen auch die am Berliner Platz eigens gefilmten küssenden Pärchen zu Ehren, nämlich zum Titel "Love is lost" - auffallend unpassend zu Bowies konsequenten Geschlechter-Überschreitungen allerdings ausschließlich in heteronormativen Konstellationen.
Insgesamt fünfzehn Songs von Bowie werden gespielt, die Band (Leitung: Christian Keul) macht das astrein, sowohl beim Gefühligen als auch in den rockigeren Teilen. Auch der Gesang passt im Großen und Ganzen. Vor allem Minettis Leistung als Sängerin darf hervorgehoben werden - mit ihrer Interpretation von "Changes" lockte sie das Publikum erstmals an dem Abend ernsthaft aus der Reserve. Musikalisch und szenisch verbindend agierten überdies drei Damen (Karoline Blöcher, Anna Prokop und Elisabeth-Marie Leistikow) als stets stilechte Background-Vocals. Dass man sich trotzdem insgesamt nicht besonders mitgerissen fühlte, lag durchaus wohl auch am Stück selbst, das trotz der vielen Inszenierungsideen etwas statisch bleibt. Das können dann auch die Hits nicht ganz ausgleichen, deren wohl berühmtester die Schlussszene begleitet: "Heroes".
Wie dieser Schluss gemeint ist, muss bei Bowie natürlich offenbleiben: Das Spiel mit religiösen Figuren gehörte bei ihm immer dazu - bis hin eben zur Anspielung auf den Erlöser und den zum Leben wieder erweckten Lazarus, dessen jenseitige Sternenwelt, zu der er schließlich aufbricht, vielleicht doch weiter die irdische ist: die der Show.