Die Rheinpfalz vom 20. März 2015 Von Isabelle Girard de Soucanton
So nah wie heute rückte der Krieg seit 1945 nicht an Deutschlands Grenzen. Davon, wie es ist, betroffen zu sein, können bestenfalls die Grosseltern heutiger Schüler erzählen. Deswegen wäre eine Frage wie „Krieg – Stell Dir vor, er wäre hier“ wohl nur mit Fernsehbildern zu beantworten. Elif Esmen, Schauspielerin am Pfalztheater spielt, wie es wäre, wenn. Und zwar mitten unter Schülern in deren Klassenzimmer.
Ziemlich verschmutzt sitzt sie da, auf der Kante des Lehrerpults. Unbeweglich – nicht ganz da, nicht ganz weg. Ihr gegenüber Schüler, achte Klasse Goetheschule, mit verschränkten Armen und auf leere Tische gestützt. Sie warten, schauen nach vorn, werden ebenso still, unbeweglich. Sekundenlang? Minutenlang? Aneinandergereihte Augenblicksmomente. Niemand hat auf die Uhr geschaut. Da ist Esmens Stimme zu hören und diese ungeheure, weil so persönlich formulierte Frage: „Wohin würdest du gehen, wenn plötzlich Raketen ins Nachbarhaus krachten?“ Der Junge in der ersten Reihe schweigt. Esmens Stimme wird lauter, hektischer. Die Gedanken purzeln aus ihr heraus, werden zu drastischen Bildern: „ich will Hilfe holen, habe Angst, Mutter schreit, nur das Nötigste mitnehmen!“ Schweigen. Dann, fast geflüstert die Frage: „Was würdest Du mitnehmen?“ Der Junge in der ersten Reihe antwortet: „Mein Handy“. Ein anderer: „Meine Playstation.“
Die Protagonistin erzählt weiter, dass sie nach ihrem Tagebuch gegriffen habe, weil andere Lieblingsdinge zu gross oder zu schwer für die Flucht in den Keller gewesen seien. Szenarien folgen, wie es war im Keller, wie es rundum krachte, zitterte, splitterte, wie ein Loch im Dach den Himmel bloss legte. Ein Brand ihre geliebten Fussballschuhe verkohlte, draussen nichts mehr funktionierte. Hab und Gut verloren ging, dieser Krieg Kälte und Hunger mit Krämpfen und Schmerzen verursachte. Und dann diese Stadt in Ruinen alle zur Flucht zwang – weg aus der Heimat Deutschland. Ja das ist die Brisanz dieses Stückes aus der Feder der Dänin Janne Teller. Es ist das diesjährige Klassenzimmerstück, inszeniert übrigens von Katharina Ramser, die bereits bei „Verschwunden“ Regie führte. Das Thema: Deutschland als unsicheres Land in einem fragilen Europagebäude und deutsche Flüchtlinge, die Asyl in muslimischen Ländern beantragen, geplagt von Heimweh und nach zwei Jahren Herumirren, Bangen und Warten Bleiberecht in der Türkei erhalten, dort jedoch verspottet und wie Menschen „dritter Klasse“ behandelt werden. Immer wieder bezieht der Text die Schüler mit Fragen ein. Immer wieder lassen Pausen das Gehörte nachklingen. Minuziös kommt alles vor, was denkbar ist: Angst, Verlust, Alpträume, Familie, Verletzte und Tote, die Bürokratie hier, der Fremdenhass dort und mittendrin der ohnmächtige Asylant ohne Rechte. Mag manches Argument zu kurz im Raum bleiben, so erstaunt umso mehr, was in einer Schulstunde gesagt, szenisch gespielt werden kann. Sogar jener schnelle Schlagabtausch mit dem Jungen aus der ersten Reihe, sogar Geschlechterklischees oder das Religionssymbol Kopftuch. Am Ende resümiert eine 16-jährige die ihren Traum vom Studium begräbt, einen Deutschen heiratet, weil sie einander kulturell verstehen. Elif Esmen spielt ihre Rolle als Mischung einer frühgereiften Jugendlichen mit verlorener Kindheit. Manchmal, wenn ihre Stimme zwischen Emotionen schwankt, scheint das Erzählen heilen zu wollen, was unverstanden so schmerzhaft in ihr nagt. Ihr Mut, einfach zu schweigen, am Boden zu sitzen, auf dem Lehrerpult zu liegen, die Zeit anzuhalten: All das birgt grosses Potenzial, die (imaginäre) Geschichte unmittelbar an die Zuhörer heran zu bringen. Eine prima Alternative jedoch wäre, wenn jene Grosseltern weiter erzählten, wie siebzig Jahrzehnte Frieden gehen.